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Kollaborativ lernen

Autorin: Dr. Annegret Haage, veröffentlicht am 13.11.2023

Zusammenarbeit mit anderen Studierenden ist ein wichtiger Bestandteil des Studiums – sei es die spontane Gruppenarbeit während der Seminarsitzungen, die Arbeitsgruppen für Referate und andere Studienleistungen, größere Studienprojekte oder freiwillige Lerngruppen. Kollaboration ist eine zentrale Anforderung ans Studium, trägt aber auch wesentlich zur Integration ins akademische und soziale System der Hochschule bei, was wiederum für den Studienerfolg wichtig ist (Heublein, Ebert, Hutzsch, Isleib & König, 2017; Klein, 2019). Untersuchungen zeigen, dass Studierende mit Behinderungen häufig weniger integriert sind. Probleme bei der Team- und Gruppenarbeit sowie das Fehlen oder der Verlust von Lerngruppen gehören zu den Schwierigkeiten, die Studierende mit Behinderungen bei der Studienorganisation, Lehre und Lernen angeben (DSW, 2018).

Wie Kollaboration inklusiv und barrierefrei gelingt, ist folglich ein wichtiges Thema, um gute Studienbedingungen für alle zu schaffen. Die Gründe, warum Kollaboration für Studierende mit Behinderungen problematisch sein kann, sind vielfältig (Haage, 2023):

  • Behinderungsbedingte Studienzeitunterbrechungen und Fehlzeiten erschweren eine zuverlässige Mitarbeit in Langzeitgruppenarbeiten wie Projekten und Referaten,
  • spezifische Kommunikationsbedarfe und unterschiedliche Arbeitstempi werden häufig nicht ausreichend berücksichtigt,
  • soziale Hemmungen und Ängste können Gruppenarbeit zu einem belastenden Thema machen.

Nicht alle Probleme lassen sich einfach aus dem Weg räumen, aber Lehrende können die Bedingungen, unter denen Kollaboration im Studium stattfindet, beeinflussen. Hochschulen können für eine entsprechende digitale und räumliche Infrastruktur sorgen.

Mittendrin oder nur dabei?

Für viele Studierende mit Behinderungen entscheiden die Bedingungen, unter denen Gruppenarbeit stattfindet, darüber, ob sie sich wirklich gleichberechtigt beteiligen können. Zu den Bedingungen gehören vor allem:

  • äußere Bedingungen
  • Kommunikationskultur
  • digitale Anwendungen und eingesetzte Materialien

 

Äußere Bedingungen

Die Räume, in denen Gruppenarbeiten stattfinden, beeinflussen die Kommunikation. Wenn alle Gruppen in einem Seminarraum gleichzeitig reden und es keine schalldämmenden Mittel gibt, macht es der Lärmpegel vor allem Studierenden mit Hörbeeinträchtigungen schwer, die Gespräche in der Gruppe zu verstehen. Gute räumliche Bedingungen zu schaffen, ist Aufgabe der Hochschule und kann von Lehrenden kaum beeinflusst werden. Wenn die Möglichkeit besteht, bei wichtigen Gruppenarbeiten mehrere Räume oder Raumtrenner zu nutzen oder Räume entsprechend vorzubereiten, so nutzen Sie diese.

Digitale Räume, sprich Videokonferenzen, schaffen für viele Studierende mit Behinderungen bessere Bedingungen.

  • Alle Teilnehmer*innen sprechen in ein Mikrofon, man kann die Sprecher*innen mit ihrem Mundbild sehen. Zoom bietet zuschaltbare Untertitel, die mittlerweile auch eine ansehnliche Qualität haben.
  • Sehbeeinträchtigte und blinde Teilnehmer*innen können die Situation besser überblicken, weil angesagt wird, wer teilnimmt, wer sich meldet und was im Chat geschieht.
  • Zu Hause an einer Videokonferenz teilzunehmen, kann besser in den behinderungsbedingt anstrengenden oder eng getakteten Alltag passen oder schlicht weniger anstrengend sein.

Das ist kein Plädoyer, alle Gruppenarbeiten online zu machen, aber manchmal ist es die bessere Alternative. Regen Sie die Studierenden in ihren Veranstaltungen dazu an, die Gruppensitzungen so zu planen, dass alle gut teilnehmen können und auch Online-Sitzungen in Betracht zu ziehen.

 

Kommunikationskultur

Eine inklusive Kommunikationskultur nimmt auf unterschiedliche Bedarfe Rücksicht, auch wenn es mehr Zeit braucht. Am besten gehen Lehrende mit gutem Beispiel voran, damit ein diversitätssensibler Umgang in der gesamten Veranstaltung, auch während Gruppenarbeiten selbstverständlich wird (vgl. Heidkamp-Kergel et al., 2022).

 

  • Visuelles zu verbalisieren, ist für Studierende mit Sehbeeinträchtigung/Blindheit essenziell. Wenn Ergebnisse auf einem Plakat festgehalten werden, wenn Rechercheergebnisse gezeigt werden, muss man sie so beschreiben, dass alle auf dem gleichen Informationsstand sind. Einfacher ist es, wenn die Ergebnisse auf einem gemeinsamen digitalen Dokument festgehalten werden (siehe Abschnitt digitale Anwendungen und eingesetzte Materialien). Aber auch dann ist wichtig, zentrale Inhalte vorzulesen oder zusammenzufassen, weil es mit assistiven Technologien wie Vergrößerungen und Screenreader immer länger dauert, alles zu finden und nachzulesen (siehe Foto).
  • Für Studierende mit Hörbeeinträchtigungen ist es wichtig, dass alle angemessen laut und deutlich sprechen. Das Mundbild sollte sichtbar sein. Wenn Studierende FM-Anlagen mitbringen (Mikro und Empfänger, die mit dem Hörgerät verbunden sind), sollten alle Teilnehmer*innen das Mikro beim Sprechen benutzen. Das kann auch positiv zur Gesprächsdisziplin beitragen, weil Unterbrechen nicht geht.
  • Gehörlose Studierende bringen in der Regel Gebärdensprachdolmetscher*innen mit. Die Übersetzung sollte abgewartet werden, damit auch diese Studierenden die Chance haben, sich in die Diskussion einzuschalten.

 

Schon die Art der Gruppeneinteilung ist häufig wenig inklusiv. Wenn die Einteilung per Aufzeigen, Abzählen oder in bestimmte Ecken sammeln funktioniert, sind Studierende mit Sehbeeinträchtigung/Blindheit im Nachteil und auf Hilfe angewiesen. Wenn zu vermuten ist, dass eine Person bei freier Gruppenwahl außen vor bleibt, sollten besser andere Formen gefunden werden. Umgekehrt kann es für Studierende hilfreich sein, wenn sie vertraute Personen aussuchen dürfen.   

Je kürzer die Gruppenarbeit, desto schwieriger kann es sein, eine gute Kommunikationskultur umzusetzen. Studierende mit Sehbeeinträchtigung/Blindheit empfinden deshalb kurze Gruppenarbeiten innerhalb von Veranstaltungen als besonders stressig. Sie haben kaum Zeit, ihre Bedarfe zu erklären und die Materialien für die Gruppenarbeit sind für sie auch selten barrierefrei.

Die Bedarfe sind natürlich immer individuell und hängen von den Arbeitstechniken und -strategien der Studierenden ab. Das gilt auch für Studierende mit anderen Behinderungen wie Teilleistungsstörungen, chronischen Krankheiten oder psychischen Behinderungen. Deshalb sollten am Anfang der Kollaboration abgeklärt werden, wie die Gruppe am besten zusammenarbeitet. Studierende mit Behinderungen sollten ihre Bedarfe nennen können, ohne gleich viele Fragen zu ihrer Behinderung und ihrer Lebensgeschichte beantworten zu müssen. Lehrende sollten deutlich machen, dass es zu einer guten Gruppenarbeit gehört, auf besondere Bedarfe Rücksicht zu nehmen.

 

Digitale Anwendungen und eingesetzte Materialien

Nur wenige Gruppenarbeiten kommen ganz ohne digitale Medien aus. Digitale Medien können für viele Studierende mit Behinderungen eine echte Unterstützung sein, manchmal schaffen sie allerdings neue Barrieren (Haage et al., 2021).

 

  • Videokonferenzen: Die Vorteile der Videokonferenzen haben wir bereits genannt. Allerdings kann die Gleichzeitigkeit der Kommunikationswege problematisch sein: Wenn gleichzeitig jemand redet und im Chat diskutiert wird, können sich Teilnehmer*innen, die Untertitel lesen oder mit dem Screenreader folgen, nur auf eins von beiden konzentrieren. Deshalb sollte nicht zu viel gleichzeitig stattfinden und wichtige Diskussionen im Chat angesprochen werden. Der Inhalt auf geteilten Bildschirmen ist für Screenreader nicht lesbar, deshalb muss wichtiges beschrieben werden.
  • Digitale Materialien: Alle Materialien, mit denen gearbeitet werden soll, müssen barrierefrei sein. Die wichtigsten Regeln haben wir in unserer Checkliste Barrierefreiheit in der digitalen Lehre zusammengefasst. Texte schon vorher zur Verfügung zu stellen, ist für viele Studierende hilfreich, für Studierende mit Sehbeeinträchtigung/Blindheit, LRS oder anderen Wahrnehmungsbeeinträchtigungen ist es eine Voraussetzung, um gleichberechtigt teilnehmen zu können.
  • Digitale Tools zur Kollaboration: Kollaborative Schreibtools oder Whiteboards können sehr hilfreich sein, damit alle auf dem gleichen Stand sind und ihre Beiträge leisten können. Als Faustregeln gelten:
    • Bei kurzer Gruppenarbeit sollten vor allem einfache, intuitiv zu nutzende Tools genutzt werden. Whiteboards mit vielen Funktionen wie Miro, Mural o. ä. können gut für längere Projekte hilfreich sein, um Referate und Projekte zu gliedern und vielfältige Infos zu sammeln.
    • Zum Festhalten von Diskussionsergebnissen eigenen sich einfache kollaborative Schreibtools mit wenigen Funktionen. In unseren Barrierefreiheits- und Usabilitytests mit Studierenden mit unterschiedlichen Behinderungen haben vor allem das Etherpad wegen der wenigen Funktionen und Google Docs wegen der Ähnlichkeit zu Word gut abgeschnitten. Schlechter haben CryptPad und Word von OnlyOffice bei Sciebo abgeschnitten. Unsere ausführlichen Testergebnisse mit Empfehlungen für Lehrende können Sie hier nachlesen: CryptPad und Etherpad.
    • Digitale Pinnwände sind gut als Materialsammlung. Auf einem Padlet oder TaskCards-Board können Sie gut Materialsammlungen für die Gruppenarbeiten im Voraus zur Verfügung stellen. Sie sind auch für zeitversetztes, kollaboratives Arbeiten geeignet. Hier gilt: Je klarer gegliedert, desto einfacher. Wir haben Padlet und TaskCards getestet. Padlet ist barrierefreier als TaskCards.
    • Digitale Whiteboards wie Miro oder Mural bieten so viele Funktionen, dass sie für Live-Kollaborationen nur geeignet sind, wenn die Teilnehmer*innen schon Erfahrungen mit dem Board sammeln konnten und das Board klar und einfach gegliedert ist. Als Sammlung für längerfristige Projekte können sie hilfreich sein. Allerdings: Wirklich barrierefrei für die Bedienung mit assistiven Technologien sind sie nicht und es ist eine komplexe Herausforderung, solche visuellen Boards, z. B. für Screenreader barrierefrei zu gestalten. Einfacher ist es deshalb, wenn man zu zweit an den Boards arbeitet.
      Wir sind mit den Hersteller*innen von Miro im Gespräch, die derzeit an einer für Screenreader optimierten Version arbeiten, und testen die Versionen immer wieder.

 

Learnings in Kürze

Gleichberechtigtes kollaboratives Arbeiten lässt sich nicht allein durch eine Maßnahme gewährleisten. Digitale Medien allein werden es nicht richten, wirklich barrierefreie kollaborative Software gibt es noch nicht. [Zumindest ist uns keine bekannt.] Digitale Anwendungen können richtig eingesetzt aber eine gute Unterstützung sein.

Am wichtigsten ist eine vielfaltssensible Kommunikationskultur, die auf unterschiedliche Bedarfe eingeht. Damit können auch Barrieren in Räumen und digitalen Tools ausgeglichen werden. Dass eine solche Kommunikationskultur in den Gruppen herrscht, liegt auch in der Verantwortung der Lehrenden. Sie müssen im Zweifelsfall Studierenden mit entsprechenden Bedarfen unterstützen.

Der Artikel basiert auf Ergebnisses des Forschungsprojekts K4D (Kollaboratives Lehren und Lernen mit digitalen Medien in der Lehrer*innenbildung) und von Tests von digitalen Anwendungen, die das Kompetenzzentrum mit Studierenden mit unterschiedlichen Behinderungen durchgeführt hat (Infos zum Testkonzept).

 

Quellennachweise